Sehr oft wurde und wird heute noch die Frage gestellt, warum die Kampfkünste Wing Tsun nach Leung Ting und Escrima nach Rene Latosa sich zusammengefunden haben, so wie sie sich zusammengefunden haben. Dass sie von einem großen Teil der Aktiven gleichzeitig betrieben werden, ist heute schon Normalität. Eine parallele Entwicklung findet auch gerade in anderen, traditionellen Kampfsportarten statt, wo die bisher waffenlose Disziplin eine der vielen philippinischen Disziplinen auf- oder angenommen hat.
Beide Künste könnten in ihrer Lehrstruktur und –organisation nicht unterschiedlicher sein, haben aber dennoch eine Reihe von Gemeinsamkeiten:

1.Beide Kampfkünste decken die Kunst des Kämpfens im waffenlosen als auch im bewaffneten Bereich ab.
2.Beide Kampfkünste sind durch eine realistische Historie in ihrer Entwicklung geprägt.
3.Beide Kampfkünste beruhen auf einem mehrere Menschengenerationen langen Entwicklungsprozeß.
4.Beide Kampfkünste beruhen auf umfassenden Konzepten, die durch Techniken und Taktiken zum Ausdruck gebracht werden.
5.Beide Kampfkünste sind rein praxisorientiert, also rein funktionale Kampfkünste.
6.Beide Kampfkünste streben die Ökonomie der Bewegung an.
Der größte Unterschied beider Kampfkünste hingegen liegt jedoch in der Lehrprogrammatik, die über die Entwicklungsgeschichte entstanden ist. So bearbeitet man im Wing Tsun zuerst die waffenlosen Konzepte, und die Waffenkonzepte folgen zum Schluss. Im Escrima werden zuerst die Waffenkonzepte und zum Schluss die waffenlosen Konzepte unterrichtet.

Während in den Philippinen die gebräuchlichen Waffen des Escrima auch gleichzeitig Arbeitsgegenstände waren (Beispiel Machete), waren in China die Waffen hauptsächlich für den Einsatz im Kriegsfall gedacht. Hieraus kann man die Schlussfolgerung ableiten, dass eine Kultur, die Waffen nur für den Kampf oder Krieg einsetzt, eher geneigt ist, eine Kampfkunst auf waffenloser Arbeit aufzubauen, da ja die Waffen nur im Kriegsfall eingesetzt wurden, also der mögliche alltägliche Gewaltfall eher ohne Waffen bestritten wird. Betrachtet man hingegen die Philippinen, wo Waffen oder waffenähnliche Gegenstände tagtäglich zur Arbeit eingesetzt wurden, dann ist es von daher logisch, eine Kampfkunst auf der Waffenarbeit aufzubauen, da die Handhabung durch tägliche Nutzung leichter fällt.

Die Fragen, die eine Symbiose dieser zwei Kampfkünste regelmäßig betrifft: Was ist sinnvoller – erst die Waffen oder waffenlos lernen? Reicht es dann nicht aus, mit der Entscheidung der vorhergehenden Frage, nur eine Kampfkunst zu betreiben? Der normale Homo Sapien von heute wägt gerne ab: wenn doch beide Kampfkünste gleiche Ziele und Konzepte verfolgen, warum soll ich beide betreiben, und wenn nur eine – dann welche? Die Suche nach Eierlegenden Wollmilchsau....

Hier findet sich eine sehr schöne Analogie aus der Sprachpädagogik oder auch aus der Musikpädagogik. Ähnlich der oben beschriebenen Fragestellung würde man gerne nur eine Sprache erlernen müssen, die dann in auf andere Sprachen anwendbar ist. Oder man möchte gerne ein Musikinstrument erlernen, von dem ausgehend man einfach andere Musikinstrumente beherrschen kann.

Die Praxis sieht leider etwas anders aus: Wenn man im Falle des Erlernens einer Sprache, ausgehend von einem Sprachkern wie z.B. den romanischen Sprachen, eine Sprache sehr weit entwickelt hat, dann ist man in der Lage, diese Grundlage als Ausgangsbasis für das Erlernen einer weiteren Sprache zu sehen, da viele Worte sehr oft in verschiedenen Sprachen durchgängig vorhanden sind. Was sich aber bei allen Sprachen sehr oft stark unterscheidet ist die Grammatik – übertragen auf die Kampfkünste die Struktur der Konzepte und dadurch deren Vermittlung. Die grundlegende Lehrsystematik ist in allen Sprachen gleich: Buchstaben bilden Worte, Worte bilden Sätze, die durch Grammatik sinnvoll zusammengebunden werden. Wenn sich aber die Grammatik von einer Sprache zur anderen unterscheidet, dann ist dies jedoch kein Nachteil, sondern sehr oft ein Vorteil! Sehr oft versteht man sogar die eigene Muttersprache inhaltlich besser mit dem Erlernen einer neuen Sprache/Grammatik, da hierdurch andere Sichtweisen durch Sprachunterschiede ausgeprägt werden.

Überleitend auf die Kampfkünste Wing Tsun nach Leung Ting und Escrima nach Rene Latosa bedeutet dies, daß beide Kampfkünste, wenn gleichzeitig betrieben sich nicht behindern, sondern im Gegenteil, positive Trainingseffekte und Verständnisse vom einen in das andere System übertragen werden können. Während z.B. im Wing Tsun ab einer bestimmten Stufe das Gefühlstraining mit ständigem Kontakt einen sehr starken Anteil ausmacht, läßt sich durch das Escrima ein sehr schöner Ausgleich durch visuelles und Distanztraining schaffen. Dadurch, daß Kernkonzepte dieser beiden Kampfkünste in die gleiche Richtung weisen und arbieten, sich aber nur durch eine unterschiedliche sprachliche Ausdrucksform unterscheiden, ist ein gegensätzliches Trainieren verhindert.

Wie kommt dies zustande? Wing Tsun nach Leung Ting und Escrima nach Rene Latosa sind zwei Kampfkünste, die durch ihre Begründer eine intensive Weiterentwicklung traditioneller Lehrwerte hinter sich haben, aber auch in den letzten Jahrzehnten gemeinsam an der Weltfront des Kampfkunstmarktes gestritten haben und sich dadurch auch näher gekommen sind.

Wenn man nun immer noch die Qual der Wahl aufgrund von Zeitmangel oder anderen Gründen hat, für welche Kampfkunst soll man sich denn letztendlich entscheiden? Positiv für den einzelnen ist immer das Betreiben beider Kampfkünste in seiner persönlichen Verteilung der Vorliebe, Wenn man aber ausschließlich nur eine Kampfkunst betreiben will, dann gibt es hier nur die Entscheidung der persönlichen Vorliebe auf Basis von Kriterien wie Trainerpersönlichkeit vor Ort, Trainingsmöglichkeit vor Ort, Bereitschaft weite Wege auf sich zu nehmen, Budget, etc..

Die schmerzhafte Wahrheit: Leider muss diese Entscheidung eine jeder für sich selbst treffen!