Offener Kampfkunstlehrgang am 13.4.2019 der Sonderklasse in Gelsenkirchen!

10.30h morgens - die Teilnehmer waren vor dem Tor des Polizeipräsidiums in Gelsenkirchen erschienen, um dann anschließend geschlossen unter der Führung von Großmeister Hermann Harms (www.jutsu-akademieharms.de) das Polizeigelände betreten zu können. Der Lehrgang fand in einer Sporthalle auf dem Gelände statt. Die Lehrgangsteilnehmer hatten sogar Anfahrtswege von Bielefeld und weiter in Kauf genommen, um bei diesem Event dabei sein zu können. Die Zusammensetzung der Teilnehmer bestand zur Mehrheit aus teils hochgraduierten Dan-Trägern unterschiedlichster Stilrichtungen und Vereinen bzw. Lehrverbänden.

 

Das Programm bestand aus zwei Teilen, die aufeinander aufbauten. Im ersten Teil stellte (Sifu/Master) Marcus Schüssler (www.wt-velbert.de / www.iuewt.com) einfache Tatsachen des gesunden Menschenverstands als Grundlage einer effektiven Kampfkunst vor. Diese Vorstellung wurde anhand eines Schaumstoffballs und eines 5Kg schweren Medizinballs durchgeführt, welcher das eigentliche Unterrichts- und Lernwerkzeug für die den gesamten ersten Teil darstellte. Der Medizinball zwang die Teilnehmer intuitiv dazu, sich von stilistischen Dogmen zu trennen. Wie kam dieser Effekt zustande? Die Teilnehmer hatten die Aufgabe, durch explosive Beschleunigung den Medizinball unter Dampf zu bringen und die Flugrichtung wie ein zielorientiertes Geschoss auf andere Teilnehmer auszurichten. Spätestens in diesem Moment sahen sich alle Teilnehmer intuitiv dazu gezwungen, eine Widerstandsstruktur etabliert zu haben – ein Akt des eigenen gesunden Menschenverstands um entweder nicht vom Medizinball frontal getroffen oder aus dem Gleichgewicht gerissen zu werden. Ein Teilnehmer sagte sogar vor allen Anwesenden, dass er so etwas noch nie erlebt hätte und er das Gefühl habe, er wäre im Falle solch einer Energieeinwirkung alternativlos. Nach der grundlegenden Arbeit in Sachen Energie wurden die Inhalte in eine kleine Basisgrundübung umgesetzt, um den Teilnehmern die Übertragung in die Selbstverteidigungsebene unter der Prämisse des Verhältnisses 0% Risiko / 100 % Sicherheit zu ermöglichen.

Im zweiten Teil schloss Großmeister Herman Harms mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung nahtlos an, in dem er Übungen aus traditionellen Kampfkünsten in die Ebene der logischen Grundlagen aus dem ersten Teil übersetzte. Er lieferte einen wertvollen Bezug einer zeitgemäßen Umsetzung alter überlieferter Übungen und Techniken mit modernem Praxisbezug. Dabei wurden unterschiedlichste Themengebiete angeschnitten in Bezug auf die Praxisorientierung in Sachen Selbstverteidigung mit und ohne Gegenstände. Großmeister Harms verstand es in seiner authentischen Art und Weise den Teilnehmern Bilder zu vermitteln, welche die weitere Nachbereitung der Teilnehmer begleiten sollen. Auch einfache Übungen, die einem Außenstehenden den Eindruck vermitteln würden, die Teilnehmer sollten sich absichtlich mit leichten Bewegungen im Gesicht treffen lassen, hatten jedoch den Hintergrund, den Teilnehmern eine kontrollierte Sensibilisierung für das ‚getroffen‘ werden, als aber auch eine kontrollierte Lernumgebung für den Abbau von Hemmungen bei Schlagbewegungen zu ermöglichen. Am Ende des zweiten Teils äußerten die Teilnehmer, dass sie beide Teile des Lehrgangs sehr genossen und als ein harmonisches Ganzes wahrgenommen hatten, wobei jeder Teil für sich durch die individuelle und authentische Darstellungsform des jeweiligen Referenten ein jeweils eigenes Bild mit Blick auf die gleiche logische Grundlage erzeugt hatte. Es wurden direkt weitere Workshops angefragt und auch in Aussicht gestellt.


Erfahrungsbericht von Bernd Bähring zum Kampfkunstlehrgang in Gelsenkirchen vom 13.04.2019


Auf den ersten Blick behandelte der Lehrgang in Gelsenkirchen am Samstag, den 13. April 2019 weder Kampfkunst noch Selbstverteidigung. Zumindest wenn man darunter Techniken und Abläufe versteht, die sich mit Selbstsicherheit während einem Straßen-, bzw. realen Kampf anwenden lassen. Ging es hier wirklich um Kampfsport? Fragen und Skepsis in den Gesichtern der Teilnehmer während dem ersten Teil der Schulung, die an dem Tag zahlreich besucht wurde.

Der Lehrgang begann untypisch mit der Aufgabe, sich gegenseitig einen Softball zuzuwerfen. Was hatte dies mit der Selbstbehauptung in einer körperlichen Konfliktsituation zu tun? Doch kaum hatten die Teilnehmer den ersten Auftrag schmunzelnd ausgeführt, verschwand der Softball genauso schnell wie die belustigten Gesichter und wurde durch einen Medizinball ersetzt. Nun war es vorbei mit dem entspannten Stand, den lockeren Armen und der geringen Konzentration. Der schwere Medizinball erschwerte dieselbe Aufgabe auf eine Weise, als hätte der Lehrgangsleiter Marcus Schüssler eine völlig neue gestellt.

Sofort wurde uns bewusst, wie wichtig eine stabile, auf die Situation angepasste und vor allem aus der Konzentration einhergehend angespannte Grundstruktur war, damit das eigene Gesicht nicht in den Genuss des Medizinballs kam. Genauer erklärt bedeutete das, einen etwas breiteren und tieferen Stand einzunehmen, Hände in Position vor dem Körper und Gesicht zu bringen, Körperspannung aufzubauen und volle Aufmerksamkeit auf den Ballbesitzer zu richten.

Die variierte Übung begann noch relativ einfach, als sich die Teilnehmer in einem großen Kreis aufstellten und den Ball reihum warfen. Anspruchsvoller wurde es, als das Kreis-Wurf-Spiel zu einem Brennball-Wettkampf erweitert wurde. Als Ball diente weiterhin der fünf Kilo schwere Medizinball, was das traditionelle Schulsportspiel zu einer Herausforderung machte. Die Wurffläche bestand aus der gesamten Trainingshalle, auf der die circa 30 Teilnehmer sich frei bewegen und gut ausweichen konnten. Das Spielfeld wurde dann jedoch auf ein Viertel der Halle reduziert. Weiterhin unter dem Aspekt, eine anfänglich leicht zu bewältigende Aufgabe strukturiert und kontinuierlich auszubauen und dadurch zu erschweren, musste sich nun jeder stark auf den Ballbesitzer konzentrieren, dessen Trefferquote auf dem geringen Raum deutlich erhöht war. Die Anspannung, um der Wucht des von sich gestoßenen Medizinballs zu entgehen, war nun deutlich spürbar. Niemand wollte die schwere Kugel gegen die Brust oder das Gesicht bekommen, und falls dies doch eintraf, wusste man: der Angreifer hat seine Sache richtig gemacht.

An dieser Stelle überlegte ich, wenn dieser Medizinball kein Medizinball, sondern eine herannahende Faust wäre, die wesentlich kleiner ist, dafür um einiges mehr an Beschleunigung aufweist und in kürzester Zeit noch eine zweite Faust hinzu donnern kann, wurde mir bewusst, wie unlogisch es ist, sich nur mit Techniken zu befassen, bei denen der Körper nicht dem Adrenalin und vor allem dem Druck ausgesetzt wird, wie sie in solchen nachgespielten Situationen entsteht. Auch der Medizinball hatte die reale Absicht uns zu verletzen, wenn wir nicht konzentriert, schnell und versiert genug waren. Hier hieß es: agieren oder kassieren. Dem Druck, der dadurch entsteht, konnte nicht ausgewichen werden, indem man sich einredete, es sei nur ein Medizinball und dies nur eine Übung. Allein durch die Tatsache, in einem engen Raum mit vielen Personen nicht derjenige sein zu wollen, der den Ball abkriegt, entsteht ein Druck, bzw. Stressempfinden.

Dass man für eine sichere Selbstverteidigung erst einmal eine solide aufgebaute Struktur braucht, schien den Teilnehmern nach dem Lehrgang um einiges ersichtlicher als sich an theoretische und sogenannte „Ablauf-Techniken“ zu orientieren, die, ohne jene Struktur, weder eine Funktion besitzen noch im Ernstfall anwendbar sind. Das ist ein wenig vergleichbar mit der Lehre, dass eins und eins zwei ergeben, was niemand versteht, der nie das Zahlensystem erlernt und damit gearbeitet hat – und zwar in seiner Struktur und seinem Anwendungssystem. Leere Theorie bleibt leere Theorie.

Was mich an Lehrgängen am meisten reizt und interessiert, ist, dass den Teilnehmern nicht gesagt wird, wie sie sich hinstellen sollen, z.B. wo die Arme hin müssen oder worauf genau fokussiert werden muss. Jeder weiß, wer in seiner Haltung fahrlässig und unkonzentriert ist, bekommt den Schlag, in diesem Fall des Balles, zu spüren und das auf eine unsanfte Art.

Reflektierend habe ich erkannt, dass unser Instinkt uns im Grunde schon vorgibt, wie wir uns bei Gefahr zu verhalten haben, aber man durch eventuelles falsch ausgerichtetes Training in der Selbstverteidigung jene Instinkte ausblendet oder nicht stärkt. Z.B. könnte man zu viel und zu lange über bestimmte Techniken nachdenken und dadurch Zeit und Konzentration verlieren, was einem im Kampf zum Verhängnis wird. Andererseits gibt es auch Menschen, die überhaupt kein Abwehrverhalten besitzen, z.B. aufgrund von sehr starken Hemmungen oder Traumata in der Vergangenheit. In solch einer Übung wie dem Medizinball-Spiel, kann ein Lehrgangleiter auch individuell erkennen, wer welches Abwehrverhalten aufweist und gezielt auf die Person eingehen. Durch meine langjährige Zusammenarbeit mit Sifu Marcus Schüssler weiß ich, dass gerade er Wert auf Individualität legt und kein „Massenprodukt“ in der Selbstverteidigung lehrt, bzw. verkauft.

Ein falsch ausgerichtetes Training, das nur auf Techniken basiert, erzeugt niemals den Druck, dem man bei einer realen Auseinandersetzung gegenübersteht. In so einem Fall könnte jener Realfall einen folgenschwer überfordern.

In der abschließenden Lehrgangsübung standen sich die Teilnehmer paarweise, d.h. jeweils zu zweit gegenüber. Abwechselnd sollte dabei einer der Angreifer sein, dessen Aufgabe es war, auf den Abwehrenden, der dieselbe Haltung wie beim Ballspiel einnehmen musste, mit erhöhter Geschwindigkeit und vor den Körper geschützten Armen zuzulaufen und dabei Druck zu erzeugen. Gerade bei dieser Übung wird einem sofort bewusst: Wenn man diese Struktur aufgibt und man die Stellung so leichtfertig hinnimmt, als müsse man nur einen Softball fangen, d.h. ohne Fokussierung, Konzentration, Ausrichtung und Anspannung, kann einen nichts mehr vor der einwirkenden Energie schützen. Weder spezifische Anwendungstechniken wie Hebeln etc. noch irgendwelche Kampfkunst- oder Selbstschutz-Systeme. Nur die Logik in Verbindung mit dem, was uns täglich umgibt, dessen wir uns aber kaum bewusst sind, kann mich vor dem Angriff verteidigen: Übertragungsenergie, Fliehkraft und Schwerkraft.

Im zweiten Teil des Lehrgangs demonstrierte Hermann Harms aus der klassischen Selbstverteidigung, wie man sich mit einfachen und alltäglichen Gegenständen gegen jemanden verteidigen kann, sollte es zu einer Auseinandersetzung kommen. Mit alltäglichen Gegenständen sind z.B. Kronkorken oder Scheckkarten gemeint. Solange die Grundlage der Logik dahintersteht – eine Lehre, die auch der zweite Lehrgangleiter deutlich fortgeführt und den Schwerpunkt gesetzt hat – ist alles verhältnismäßig erlaubt, um seine eigene Gesundheit oder die der zu schützenden Person zu sichern, bzw. zu verteidigen.

Das Ziel beider Lehrgänge war in einem Punkt unser Bewusstsein zu schärfen: Kämpfen können wir alle, zumindest dann, wenn uns klar ist, das wir entweder mit Händen, Fäusten, Beinen oder Gegenständen jemanden verletzen können, solange wir diese nur schnell genug beschleunigen und gewillt gegen jemanden richten. Dieses Wissen aber auch so umzusetzen, das man für sich selbst ein Verhältnis von 100% Sicherheit zu 0% Risiko erhält, erfordert weitaus mehr. Denn am Ende kämpfen wir nicht nur mit unserem Wissen, d.h. mit unserem Geist. Am Ende zählt immer die Verbindung zwischen Körper und Geist. Und den Körper schärfen wir nun einmal in einem praktischen Training, in dem uns nicht sehr viel Zeit bleibt, um das theoretische gelernte abzurufen, sonder in dem wir auch nach Instinkt handeln müssen.

Und auch wenn diese Lehre für jemanden wie mich, der seit vielen Jahren WT betreibt, in der Theorie und Erkenntnis, nicht wirklich neu waren, so habe ich festgestellt, dass dennoch jede neue praktische Übung oder nachgestellte Stress- oder Drucksituation alte Elemente auffrischt und mich in dieser Körper-Geist-Verbindung tiefer prägt und stärkt.